Leseproben

 

ZWÄNGE

 

„Öffne deine Hand“. Die Stimme hörte sich nicht an wie aus dem Mund eines Menschen, sondern wie eine synthetisch hergestellte Tonfolge von weit her. Er nahm den Mann, der nun wieder vor ihm stand, lediglich als konturloses dunkles Etwas wahr. Die Anstrengung, die das Ertragen des Schmerzes verursachte, hatte Blutgefäße in seinem rechten Auge platzen lassen. Willenlos geworden registrierte er beiläufig, dass seine rechte Hand ergriffen wurde. Sekunden später raste erneut eine Schmerzwelle durch seinen geschundenen Körper. Als Poppken bewusst wurde, dass der Mann ihm mit einem Seitenschneider den kleinen Finger im zweiten Gelenk abgetrennt hatte, versagte der Kreislauf und gnädige Dunkelheit umfing ihn. Er wollte nicht in die Welt der Schmerzen zurückkehren, doch das eiskalte Wasser, mit dem er überschüttet wurde, stabilisierte und sensibilisierte ihn augenblicklich für sämtliche Wahrnehmungen.

 

Der Mann stellte den Eimer beiseite. „Du hast Schmerzen, was?“, fragte er beinahe teilnahmsvoll. Poppken nickte hektisch. „Möchtest du reden?“ Wieder nickte Poppken. Mit einem Ruck verschwand das Tape von seinem Mund und damit auch gleichzeitig die andere Hälfte seines Bartes. Zudem riss das Zäpfchen, welches die Oberlippe mit dem Oberkiefer verbindet. Doch die Schmerzen registrierte er kaum. Gierig sog er die Luft ein. Sie waren nichts im Vergleich zu dem, was er vorher erlebt hatte. „ Weißt du wer ich bin?“ Wie aus weiter Ferne drang die Stimme in sein Bewusstsein. Es erfolgte ein Kopfschütteln...

 

MORDGEDANKEN

 

Karim Jemah zwinkerte und sah diesem Etwas nach, wollte sich bücken, ausweichen, doch es war viel zu spät. Er machte den Fehler zu denken und nicht reflexartig zu handeln. An seinem Hals meinte er ein leichtes, sinnliches Kitzeln zu spüren, und einen Augenblick stand er wie abwartend da. Aus dem Kitzeln am Halswurde wurde ein brennender, scharfer Peitschenhieb, der für sekundenbruchteile eine feine rote Spur hinterließ. Karims Hand fuhr hoch in Richtung Kehle, dabei machte er einen Schritt auf Andreas Born zu. Dieser wusste jedoch genau, was im nächsten Moment passieren würde, und er sprang mit zwei weiten Sätzen zurück. Es hatte den Eindruck, als wolle der Modellathlet etwas sagen, doch durch dieses Engagement öffnete sich der Hals des Farbigen schlagartig wie ein Krater, und bei dem wie ein Geysir hervorbrechenden Blutschwall wurde deutlich, dass sein Hals mit dem scharfen, langen Cutter bis zur Wirbelsäule hin durchtrennt worden war.

 

Der Kopf nickte in Richtung Nacken, und durch die plötzlich herbeigeführte Blutleere im Gehirn brach er der Stelle wie ein gefällter Baum zusammen. Nur noch wenige Zuckungen und der Blutstrom versiegte wie der abgeschlagene Morgenurin eines Beduinen im Wüstensand. Metallener Blutgeruch vermengte sich mit dem Geruch von Schweiß und Exkremente. Die vor kurzem noch dunkelglänzende Haut des Anästhesisten Jemah nahm die Farbe grauer Asche an, und seine großen braunen Augen umwölkten sich, wie von einem Nebelschleier überzogen. Ein letztes Füssescharren, die Hände öffneten und schlossen sich, der Schließmuskel erschlaffte hörbar, dann sekundenlang Stille. Andreas Born ging langsam in die Hockstellung und massierte sich den Nacken. Die Aktion hatte viel Substanz gekostet, und er hatte den Ausgang nur für sich verbuchen können, weil der Farbige so unerfahren im Zweikampf war. Schwäche legte sich wie Spinngewebe über seine Glieder. Diese Aktion war nicht geplant.